Die Blutmonde
Da wir eure Geduld vielleicht schon ein wenig überstrapaziert haben, vorab zu diesem Block eine kleine Anmerkung: Er kann auf den ersten Blick wie ein neues Thema wirken, aber er greift viele der zuvor genannten Punkte auf und veranschaulicht sie auf eine andere Art und Weise. Wie, das schauen wir uns jetzt an.
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Die soeben genannte Kombination aus dem Gift des Halbwissens und dem Virus der unbemerkten Halbwahrheiten kann sich u.a. deswegen so schnell und gut verbreiten, weil sich a) immer mehr Leute mit diesen Themen beschäftigen und b) das Problem (“Was nicht passt, wird passend gemacht.”) irgendwann vom Sender auch auf den Empfänger überschwappt; d.h., auch er fängt an, unbewusst Rosinen zu picken bzw. eben sich nur noch die Inhalte anzusehen, die sein aktuelles Verständnis bestätigen. Das ist gut, wenn man sich mit wahren Dingen beschäftigt. Schlecht, wenn nicht.
Durch diesen quasi automatisch ablaufenden Prozess läuft man dann Gefahr, dass die aufgenommenen Fehlinformationen durch die geschickten Algorithmen von Youtube & Co. sich nur noch mehr verdichten bzw. sich immer mehr gegenseitig bestätigen. Denn diese Algorithmen sind alles andere als dumm. Sie wissen längst, dass der Mensch sich viel eher mit bestätigenden Infos beschäftigen will, als mit welchen, die sein Denken kritisch hinterfragen. Wie zu Beginn gesagt: Den Social-Media-Giganten geht es nicht um Wahrheitsfindung, sondern nur darum, uns bei der Stange zu halten.
Wie sie das schaffen, können wir uns sehr anschaulich für unser hier betrachtetes Beispiel, also für das Jahr 2015, ansehen.
Denn nebst Jonathan Cahns Schmittah und Martin Armstrongs Pi gab es ein weiteres Phänomen, dass damals durchs Internet jagte:
Wer sich vielleicht noch erinnern kann, wurde das alles begleitet von der sog. “vier Blutmonde-Prophezeiung” (oder auch als “Blutmond-Tetrade” bekannt), bei der zu den biblischen Festzeiten (Passah, Sukkot 2014, Passah, Sukkot 2015) vier aufeinanderfolgende Blutmonde zu sehen waren.
Ein Ereignis, das so selten ist, dass – so die Verfechter dieser Auslegung – da einfach etwas passieren musste. Dazu nahm man dann noch ein paar Verse, wie z.B.:
Lk 21,25 Und es werden Zeichen geschehen an Sonne und Mond und Sternen, und auf Erden Angst der Heidenvölker vor Ratlosigkeit …
… und schon war die Szenerie für unzählige reißerische Youtube-Videos gesetzt. Selbst ein Film, ebenfalls zu einem New York Times Bestseller-Buch, dieses Mal vom amerikanischen Prediger John Hagee, wurde dazu gedreht: “Four Blood Moons: Something is About to Change” (“Vier Blutmonde: Etwas ist dabei, sich zu verändern”). Hier der Trailer dazu:
Ziemlich gut gemacht. Vor allem die Aussage: Wissenschaft, Historie und die Schrift (also die Bibel) sind “einheitlich ausgerichtet” (so wie eben die vier Blutmonde ausgerichtet sind), ist nicht nur raffiniert, sondern suggeriert sofort eine extrem hohe Glaubwürdigkeit.
- Denn die Wissenschaft ist sehr genau (wenn auch nicht in allen Bereichen).
- Die Geschichte lässt sich nicht verändern.
- Und die Heilige Schrift ist sowieso wahr.
Und diese drei kommen jetzt zusammen. Da ist für viele “alles total klar”.
Dass die Bibel aber nirgends von vier Blutmonden redet oder die Zusammenhänge der oft zitierten Verse völlig andere sind, wird leider unbewusst passend gemacht und eben beim Zuhörer leider oft unbemerkt übersehen. In Kurz: Man prüft es einfach nicht.
Wieso auch, denn wenn man die vier Blutmonde noch mit den Infos von Jonathan Cahn kombiniert, ist doch quasi erneut “alles total klar”. Denn selbst wenn das eine oder andere nicht ganz stimmt, können doch nicht alle diese Zeichen, Zahlen und Bibelstellen ein Zufall sein! So die Denke vieler, die nicht wachsam geprüft haben.
Daher war es auch nicht verwunderlich, dass die halbe Glaubenswelt im Internet in Aufruhr war. Noch und nöcher Videos zu diesen Themen. Es musste einfach etwas Weltveränderndes geschehen. All die Ereignisse zu den Schmittahs, die Börsencrashs, die Weltkriege, die Ereignisse in Jerusalem zu den Jubeljahren, die vier Blutmonde, die nicht irgendwann erscheinen, sondern genau zu den Festen usw. All das konnte doch kein Zufall sein. Für viele bedeutete die Summe dieser Dinge so etwas wie den dritten Weltkrieg, das Aufrichten der NWO, das Erscheinen des sog. Antichristen oder die Rückkehr des Herrn. Oder alles zusammen.
All das hat – wie man sich sicher vorstellen kann, auch wenn man es nicht miterlebt hat – bei vielen Menschen Angst und Panik ausgelöst. Sogar bei Ungläubigen. Denn durch Cahns hohen Bekanntheitsgrad in den USA bekam quasi jeder davon mit. Auch für einige Börsenspekulanten spielte Cahns Auslegung keine unwichtige Rolle, erst recht nicht die von Armstrong. Aber am schlimmsten traf es natürlich die gläubigen Geschwister, die bei der Fülle der angeblichen Zeichen und Beweise, felsenfest davon ausgingen, dass zur nächsten Schmittah 2014 und dem darauffolgenden Jubeljahr 2015 radikale, die Welt quasi auf den Kopf stellende Dinge passieren werden. Allen voran im gelobten Land.
Und was passierte?
All die geheimnisvollen, reißerischen, sensationellen, die Welt verändernden Dinge, von denen geredet und gepredigt wurde, sind ausgeblieben. Das ist erst einmal ein interpretationsfreier Fakt. Und das eben, obwohl das alles doch kein Zufall sein konnte.
Die entscheidende Frage ist aber nicht, ob alles ein Zufall ist oder nicht, sondern die Frage ist allen voran erst einmal, ob diese Dinge wahrheitsgemäß interpretiert werden. Denn wenn man Denkfehler macht, Sachen miteinander in Verbindung bringt, die nicht zusammengehören, von falschen Grundannahmen ausgeht, die Bibel nicht sauerteigfrei interpretiert (eben all die Dinge macht, von denen wir soeben geredet haben), dann werden selbstverständlich aus Zufällen angebliche Zeichen Gottes.
Das Schöne aber bei der Betrachtung von Cahn und den Blutmonden ist – und das ist wirklich Gold wert –, dass man hier nicht über Meinungen und Ansichten streiten muss, denn wir befinden uns nicht im Jahr 2013, wo alles noch unklar war und sich die Leute wahnsinnig machten. Auch müssen wir nicht Argumente und Gegenargumente miteinander abwägen und darüber debattieren, ob all das Zufälle oder doch Zeichen sind, denn wir können rückblickend völlig interpretationsfrei sagen, dass nichts von all dem Erwarteten oder Prophezeiten eingetreten ist.
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Zur Verteidigung von Bruder Cahn muss man sagen, dass er immer wieder betont, dass “zu diesen Daten nichts passieren muss”. Dennoch ist es mehr als nachvollziehbar, dass bei der Fülle und Art der Darstellung der Information, der Tour durch die TV-Shows, den Büchern und DVDs, dieser “Nachtrag” für viele wie Kleingedrucktes wirkt. Es hat gegen all die “Sensationsinformationen” keine Chance. Erst recht, wenn diese Informationen starke Gefühle auslösen, wie eben Sorgen oder Angst.
Dann ist – logischerweise – ein wachsames, sachliches, emotionsloses Prüfen erschwert oder für viele sogar erst gar nicht möglich.
Daher muss man das Prüfen mit der Zeit lernen. Was man aber sofort machen kann, ist: Eine grundsätzlich vorsichtige Haltung beim Info-Konsum haben!
Denn Informationen können logisch und überzeugend klingen, müssen aber am Ende nicht viel mit der Wahrheit zu tun haben. Wie in unseren Beispielen gesehen.
…
Die Frage ist nun: Wie kann man sich vor all dem schützen? Vor all den Tücken unseres Gehirns aus dem ersten Teil und vor all den sensationellen Informationen aus diesem Teil?
Allen voran durch eine Art “Selbstkontroll-Frage” …