Der Versöhnungstag
Auch hier schauen wir uns als Einleitung wieder die Stelle an, wo der Versöhnungstag zum ersten Mal auftaucht. Es ist dieses Mal 3Mo 16, wobei in diesem Kapitel der Fokus stark auf den Ablauf im Zelt Gottes gelegt wird. Dann später in 3Mo 23 in den Versen 26-32 geht die Torah erneut auf den Versöhnungstag ein.
Zuerst stichpunktartig eine kleine Zusammenfassung des 16. Kapitels:
- Nur der Hohepriester darf einmal im Jahr (am 10.07. nach biblischer Zeitrechnung) in das Allerheiligste vor die Lade des Bundes treten.
- Grund: Das Zudecken der Sünden des Volkes.
- Hierfür muss er eine spezielle Kleidung, die nur für diesen Zweck vorgesehen ist, anziehen.
- Er muss einen Stier für sich und sein Haus, einen Widder als Brandopfer opfern und dann zwei Ziegenböcke für das Volk nehmen.
- Der eine Bock ist Asasel, auf dessen Kopf die Ungerechtigkeiten und Übertretungen des Volkes gelegt werden. Dann wird er lebend in die Wüste fortgeschickt.
- Der andere Bock wird geopfert und das Blut wird in das Allerheiligste gebracht, um Sühnung für das Volk zu erwirken.
- Danach reinigt sich der Hohepriester und zieht seine “normale” Dienstkleidung wieder an.
Dann ab Vers 29 in diesem Kapitel lesen wir etwas, was dann auch in 3Mo 23,26-32 als Besonderheit wiederholt wird:
- Am Versöhnungstag soll man – nebst der heiligen Versammlung und dem Arbeitsverbot – “sich selbst kasteien”.
- Und zwar den ganzen 10.07. lang, d.h. beginnend am Ende des 09.07. abends bis zum 10.07. abends (3Mo 23,32).
Man könnte sagen, dass dieses “sich selbst kasteien” der absolute Fokus des Tages ist und unbedingt (!) beachtet werden muss. Ansonsten droht die Höchststrafe.
Aber was genau bedeutet dieses “sich selbst kasteien”?
Dazu ein kleiner Ausschnitt aus unserer Mt 5,19-Serie:
Viele von uns verbinden den Versöhnungstag fest und unverrückbar mit einem Fasten, sprich einem Enthalten von Speise oder Speise und Trank. Anders ausgedrückt: Für viele ist das Fasten ein Gebot Gottes für diesen Tag. Aber die Frage ist: Wo steht das? Wo steht der Vers, der klar zeigt, dass wir an diesem Tag fasten sollen?
Wenn man die gesamte Heilige Schrift nach dieser Frage absucht, wird man keinen einzigen Vers dazu finden. Dennoch ist das für viele von uns absolut fest in den Köpfen verankert – obwohl der Text nicht von einem Fasten, sondern von einem “Demütigen, Kasteien” und dergleichen spricht. Woher kommt aber dieses feste Verständnis des Fastens? Wir kommen gleich dazu.
Vorab: Im hebräischen Text kommt das Wort, um das es geht (hebr. “anah”), 81 mal vor. In der Elberfelder CSV-Übersetzung (so weit wir wissen auch in der Schlachter 2000) wird es kein einziges Mal mit “fasten” übersetzt, stattdessen mit “demütigen, kasteien, bedrücken, beugen, niederbeugen” usw.
Wohingegen das Wort für “fasten”, hebr. “zum” oder “zom” als Nomen (also “das Fasten”) kommen zusammen 47 mal vor und werden immer mit “fasten” übersetzt.
Aber wie bereits gesagt, steht im Zusammenhang des Versöhnungstages dieses Wort für “fasten” nicht da. Nicht an einer einzigen Stelle. Daher noch einmal die Frage: Woher kommt aber dieses feste, teilweise bei manchen unverrückbare Verständnis?
Sehr wahrscheinlich von Bruder Juda. Denn durchaus ist das Fasten eine mögliche Form des “Sich-selbst-Demütigens” und bietet sich daher an. Aber es ist a) nicht die einzige Form sich zu demütigen und b) steht es nirgends geschrieben.
Warum wir das überhaupt thematisieren, hat v.a. zwei Gründe, die uns nicht nur beim Versöhnungstag auffallen, sondern generell, sagen wir mal, ein Problem für uns sind, die wir jetzt die Gültigkeit der Weisung Gottes (also seinem Gesetz) verstehen dürfen:
- Woher kommt mein Verständnis, das ich habe, wenn ich keinen Vers finde, der mein Verständnis bestätigt? (Dies ist v.a. rund um das Thema “Sabbat” eine wichtige Frage für uns alle.)
- Wieso verteidige ich so vehement mein Verständnis, wenn es sich nicht durch die Heilige Schrift bestätigen lässt? Wäre es dann nicht besser, vom Gaspedal zu gehen und sich aufmerksam auszutauschen und den Heiligen Text allein für sich sprechen zu lassen?
Diese beiden Fragen sind sehr hilfreich für uns alle, um a) an uns selber Sauerteig zu entlarven und b) offen für neue Auslegungen zu sein, die sich nur auf die Heilige Schrift berufen und nicht auf Traditionen.
Wir möchten noch einmal wiederholen: Es geht hier nicht darum, über den Punkt zu streiten, ob man am Versöhnungstag fasten muss oder nicht, sondern darum, dass es so erst einmal nicht geschrieben steht, aber für viele von uns einfach so angenommen wird. Kann man an diesem Tag fasten: Ja, natürlich. Auch wir tun das. Aber eben nicht nur das, denn einige von uns schlafen an diesem Tag zusätzlich nicht, andere wiederum reden nicht usw. usf.; je nachdem wie man sich vor seinem Schöpfer demütigen, kasteien, niederbeugen und dergleichen will.
Da der Allmächtige uns lediglich das Gebot des “Sich-Kasteiens” gegeben hat, aber nicht das Gebot darüber “wie genau wir das machen sollen”, ist das etwas, was offen für einen jeden ist. Vielleicht – nur vielleicht – hat er sich dabei etwas gedacht:
Ps 119,140 Wohlgeläutert ist dein Wort, und dein Knecht hat es lieb.
Die Gründe für das Warum und Weshalb unser himmlischer Vater dieses Thema offen für uns gelassen hat, wären spekulativ. Fakt ist, dass er es getan hat. Daher sollten wir sein Wort auch nicht verändern oder unsere Meinung als Gottes Wort ausgeben, sondern den heiligen Text so lassen, wie er ist: Steht da nichts von “fasten”, dann steht es nicht da. Steht “fasten” da, dann steht “fasten” da und wir fasten. Eigentlich ganz einfach.
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Wir möchten einen Teil daraus noch einmal unterstreichen:
Es geht nicht darum, ob man am Versöhnungstag fasten muss oder nicht, sondern darum, dass es so erst einmal nicht geschrieben steht. Kann man an diesem Tag dennoch fasten: Ja, natürlich.
Fasten ist also eine sehr naheliegende und gute Möglichkeit, sich, wie es der Text sagt, “zu demütigen, zu kasteien, zu bedrücken, zu beugen” usw. Ist es die einzige Form? Nein.
Ganz generell könnte man als ein Prinzip für die verschiedenen Formen der “Selbstkasteiung” festhalten:
Alles, was man jeden Tag tut (wie eben essen und trinken), bietet prinzipiell die Möglichkeit, diese am Versöhnungstag zum Zwecke der “Selbstkasteiung” zu unterlassen. Und je schwieriger das Unterlassen einem fällt, desto besser ist es. Beispiele hierfür wären: kein Schlaf, aber für manche auch kein Handy oder generell nichts Digitales oder Technisches, keine Körperpflege und dergleichen.
Es gibt viele Möglichkeiten für diesen besonderen Tag. Geht da in euch und konzentriert euch nicht allein aufs klassische Fasten, was aber wie gesagt, völlig okay und eine gute Möglichkeit ist, das Gebot “sich selbst zu kasteien” zu erfüllen.
Was ist noch wichtig für diesen Tag?
Das lässt sich gut durch folgenden Vers beschreiben:
Phil 2,12 Daher, meine Geliebten, wie ihr allezeit gehorsam gewesen seid, nicht allein als in meiner Anwesenheit, sondern jetzt viel mehr in meiner Abwesenheit, bewirkt euer eigenes Heil mit Furcht und Zittern.
Im Gegensatz zur weit verbreiteten christlichen Lehre ist das Heil nicht etwas, was ich irgendwann irgendwie durch ein einzelnes Gebet oder durch die Taufe oder durch was auch immer mir quasi “erschleiche”, sondern das Heil hat viele Aspekte. Einer dieser Aspekte ist die gesunde Gottesfurcht und Abhängigkeit von seiner Gnade, die eben fest mit dem Versöhnungstag verankert ist.
Der wahre Ankerpunkt (wenn man es so nennen mag) ist natürlich die Tat Jeschuas am Kreuz. Sie ermöglicht überhaupt erst die uns zuteil werdende Gnade. Daher ist ja unser Glaube an sein Werk das Fundament des Glaubens als auch das Fundament der Gnade Gottes. Aber nur weil wir sagen, dass wir glauben, heißt das noch lange nicht, dass wir glauben.
Was ist damit gemeint? Dazu ein Vers als Beispiel:
Jak 2,14 Was nützt es, meine Brüder, wenn jemand sagt, er habe Glauben, hat aber keine Werke? Kann etwa der Glaube ihn erretten?
Vergleichbar dazu könnte man auch sagen:
“Was nützt es, meine Brüder, wenn jemand sagt, er habe die Gnade Gottes, hat aber keine Werke? Kann etwa diese Gnade ihn erretten?”
Bei beiden Fällen lautet die Antwort definitiv “ja” und definitiv “nein”! Denn wir sind ja nicht durch unsere Werke gerettet, sondern durch den Glauben und durch die Gnade. Aber all das nützt am Ende nichts, wenn wir nicht entsprechend dem Glauben und der Gnade unser Leben führen. Denn …
Mt 7,21 Nicht jeder, der zu mir sagt: „Herr, Herr!“, wird in das Reich der Himmel eingehen, sondern wer den Willen meines Vaters tut, der in den Himmeln ist.
Ohne dieses Thema auszuweiten, ist es für unser Thema hier wichtig festzuhalten, dass es u.a. der Wille unseres himmlischen Vaters ist, dass wir uns nicht auf dem Glauben und der Gnade ausruhen. Gleichzeitig ist es aber auch sein Wille, dass wir unumstößlich fest (!) an seine Vergebung und Gnade durch seinen Sohn glauben. Ganz ohne unsere Werke und durch Glauben allein. Das heißt, dass wir damit wieder in einem gesunden Spannungsfeld sind:
Einmal zwischen “ohne Werke gerettet durch Glauben”, aber gleichzeitig auch “Werke wichtig, weil wir glauben”.
Und einmal im Spannungsfeld: “Gnade rettet uns zu 100%, weil wir glauben”, gleichzeitig ist aber erst am Ende sicher, “ob unser Glaube echt war”. Die Entscheidung über die Echtheit treffen nicht wir, auch nicht irgendwelche extrem gefährlichen Irrlehren (!), sondern Gott.
All das soll uns aber eben nicht verunsichern (!),
sondern in der Gottesfurcht und in der Abhängigkeit zu ihm wachsen lassen!
Das alles steckt im Versöhnungstag mit drin. Und daher ist dieses Fest auch nicht ein klassisches Freuden-Fest, sondern eben eines, wo man “sich selbst kasteit”. So ergibt dieses Gebot dann auch Sinn.
…
Was noch zu diesem besonderen Tag passt:
Zwischenmenschliche Versöhnungen!
Logo, heißt ja nicht umsonst Versöhnungstag. Das heißt, sollte es etwas geben, was du mit einem Menschen bereinigen kannst, dann ist erst einmal jeder Tag gut dafür, so natürlich auch der Versöhnungstag, der uns noch einmal explizit an die Wichtigkeit der Vergebung erinnert.
Daher ist es gut, bei diesem Fest besonders in sich zu gehen und zu prüfen, wo vielleicht mit anderen Dinge noch ungeklärt sind und ein Gespräch nötig wäre. Findest du etwas, dann zögere nicht (!) und suche die Klärung.
Und sollte man zu denjenigen gehören, die aus den verschiedensten Gründen Schwierigkeiten beim Vergeben haben, dann sollte man – nachvollziehbare Gründe hin oder her – spätestens an diesem Tag sich die überaus eindringliche Warnung unseres Herrn noch einmal intensiv vor Augen führen:
Mt 6,14-15 Wenn ihr den Menschen ihre Verfehlungen vergebt, so wird euer himmlischer Vater euch auch vergeben. Wenn ihr aber den Menschen ihre Verfehlungen nicht vergebt, so wird euch euer Vater eure Verfehlungen auch nicht vergeben.
Sollten wir also in einem derartigen “Dilemma der Unversöhnbarkeit” stecken, dann müssen wir unseren himmlischen Vater anflehen, dass er unser Herz erweicht, damit wir vergeben können. Keinesfalls dürfen wir in Vorwürfen, Streit, Bitterkeit oder gar Unversöhnbarkeit verharren! Das wäre fatal. Stattdessen müssen wir etwas dagegen tun.
Und sollten wir andere Menschen kennen, die einander nicht vergeben können, dann müssen wir auch da etwas tun. Denn es ist unsere Aufgabe in Christus, Botschafter des Friedens und der Versöhnung zu sein:
2Kor 5,18.20 Gott hat uns mit sich selbst versöhnt durch Jesus Christus und uns den Dienst der Versöhnung gegeben. … So sind wir nun Botschafter für Christus, und zwar so, dass Gott selbst durch uns ermahnt; so bitten wir nun stellvertretend für Christus: Lasst euch versöhnen mit Gott!
Wir haben also den wichtigen Dienst geschenkt bekommen, Menschen mit Gott zu versöhnen. Gleichzeitig haben wir aber natürlich auch den Dienst bekommen, Menschen mit Menschen zu versöhnen.
Was uns direkt zum letzten wichtigen Punkt für diesen Festtag bringt:
Gebete für die Versöhnung.
Sollten wir sehen, dass es zwischen Menschen Unfrieden gibt, dann dürfen und sollen wir Mittler des Friedens sein, die Klärung suchen und parallel im Gebet Fürbitte für diese Menschen tun. Wieder: Gerne an diesem Tag, aber eben auch gerne an jedem anderen Tag.
Denn oft ist es so, dass Konfliktsituationen eine dritte Person, einen Mittler benötigen, um eventuelle Missverständnisse aus dem Weg zu räumen oder verhärtete Fronten nach und nach aufzuweichen. Durch die versöhnliche Arbeit und das Gebet eines Mittlers können dann Menschen sich meist schneller einander nähern und einfacher miteinander versöhnen als ohne.
Kennst du also solche ungelösten Konflikte, dann nutze die Gunst der Stunde bzw. die Gunst des Versöhnungstages und kümmere dich darum, denn dieser “Dienst der Versöhnung als Botschafter Christi” ist etwas, was unserem Gott sehr, sehr wohlgefällig ist! Unter anderem weil …
Kol 3,12-13 Weil Gott euch auserwählt hat, zu seinen Heiligen und Geliebten zu gehören, bekleidet euch mit innigem Erbarmen, Güte, Demut, Milde und Geduld; ertragt einander und vergebt euch gegenseitig, wenn einer dem anderen etwas vorzuwerfen hat! Wie der Herr euch vergeben hat, müsst auch ihr vergeben!